WER BIN ICH OHNE MEINE ESSSTÖRUNG?
Wenn du das gerade liest, befindest du dich momentan vielleicht in einer Phase, in der es dir nicht so gut geht oder du bist, so wie ich, durch eine für dich herausfordernde Zeit gegangen?
Vielleicht kennst du das Gefühl alleine zu sein oder dich alleine zu fühlen?
Genau dieses Gefühl hatte ich lange Zeit meines Lebens. Ich wünschte mir, dass da jemand gewesen wäre. Jemand, der mir die Hand gegeben hätte und mir gesagt hätte, dass es vorbei gehen wird. Doch damals hat mir genau das niemand gesagt. Es war niemand dort. Niemand, dem ich vertraut habe. Ich habe niemandem vertraut und wem ich am aller wenigsten vertraut habe, war mir selbst. Ich hatte das Vertrauen in mich, in das Leben verloren. Ich habe mich verloren gefühlt. Leer. Nichts als Leere.
Mit und durch diesen Beitrag möchte ich dir Mut machen, nicht aufzugeben. Mache weiter, auch wenn du dich gerade in einer schwierigen Situation befindest und du durch eine herausfordernde Zeit gehst. Ich möchte dich wissen lassen, dass du nicht alleine bist. Du musst diesen oft nicht einfachen Weg, nicht alleine beschreiten musst.
Einige Jahre meines Lebens litt ich unter einer Essstörung. Der Weg daraus war kein einfacher.
Ich habe an ihr festgehalten. Lange Zeit. Ein Leben ohne Essstörung war für mich unvorstellbar.
Eine Frage, die ich mir stellte: „Wer bin ich ohne meine Essstörung?“ „Wer bin ich, wenn mein jahrelanger Begleiter, die Essstörung nicht mehr da ist?“ Eine Frage, auf die ich keine Antwort wusste. Ein Leben ohne Essstörung war in der Zeit undenkbar, denn über was hätte ich ohne sie noch die Kontrolle? Ich ging mit ihr Hand in Hand. Sie gab mir Halt und Sicherheit. In mir und meinem Leben hatte ich diesen Halt längst verloren. Ich hatte mich selbst verloren, wusste nicht wer ich bin und was ich will.
Meine Essstörung hat mir lange Zeit meines Lebens treu gedient. Sie war mein Anker, mein Seil, an dem ich mich hochziehen konnte, das mich nicht ertrinken ließ. Die Essstörung war mein Schutzmechanismus und Überlebensstrategie.
In dieser Zeit habe ich gekämpft. Gekämpft, sowohl gegen mich selbst, als auch gekämpft ums Überleben.
"Du bist nicht alleine."
Doch jetzt, wo ich gelernt habe, mich ohne sie über Wasser zu halten, mehr noch, selber zu schwimmen und mich tragen zu lassen, weiß ich, dass ich auch ohne sie überleben kann. Ganz ehrlich, ich fühle, dass ich auch ohne sie noch jemand bin. Ja, ich bin immer noch hier.
Lange Zeit dachte ich, dass ich ohne sie gar nicht leben könne. Ja doch, ich bin immer noch hier.
Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, über die Zeit, in der ich an der Essstörung festhielt und in der sie mir diente, wird mir nochmals verstärkt bewusst, dass ich nun immer mehr und mehr den Halt in mir selbst finden kann. Den Halt, der mir so lange fehlte und den ich jahrelang versuchte im Außen zu finden. Jahrelang dachte ich, dass ich diesen Halt, den ich in mir selbst nicht fand, ich im Außen finden könne. Vergeblich.
Ich hielt mich jahrelang an sämtlichen Menschen fest und konnte mich nicht von ihnen lösen. Ganz in dem Glauben, sie könnten den Teil, den ich von mir abgespaltet habe, ersetzten. Ich lief ihnen immer weiter hinterher. Damals war mir noch nicht klar, dass diese Menschen, denen ich alles gegeben hätte, um meinen Schmerz nicht fühlen zu müssen, meinen verletzten Teil auch nicht heilen konnten. So sehr ich mir das doch wünschte, es ging einfach nicht.
Vor ein paar Jahren glaubte ich noch, dass ich lediglich Menschen um mich herum bräuchte, die mich verstehen und so lieben wie ich bin, um den Schmerz in mir loszuwerden. Dem war nicht so. So leicht ist es dann leider nicht. Es war ein langer Weg – ein sehr langer sogar – um dies zu erkennen. Ich brauchte Zeit, um mir selbst einzugestehen, dass ein anderer Mensch mir diesen Schmerz nicht abnehmen kann.
Klar kann ein anderer dazu beitragen, dass du dich in seiner Anwesenheit gut fühlst. Das will ich nicht beschreiten.
Doch sobald der Mensch weg ist, ist der Schmerz wieder da und oft auch noch stärker als zuvor.
Dieser Schmerz, der immer dann da ist, wenn du alleine bist und du dich traurig und ungeliebt fühlst, will dir etwas mitteilen. Er zeigt dir auf, wo du noch nicht im Frieden mit dir bist und du liebevoll hinschauen darfst.
So vergingen Jahre, in denen ich mich an meine Essstörung, an Menschen und an Dinge im Außen hing. All das, weil ich mir nichts sehnlicher wünschte, als den ganzen Schmerz nicht fühlen zu müssen. Es verstrichen Jahre– Zeit, in der ich all das nicht wahr haben wollte. Jahre, in denen ich vermutlich unterbewusst bereits ahnte, dass ich weiterhin festhielt und ich Menschen hinterherlief, damit sie mir das geben, was ich in mir nicht finden konnte: Halt und Sicherheit.
"Ich wollte nicht aufhören zu essen, nicht jetzt."
Jahre später kann ich sagen, dass ich den Halt, den ich lange Zeit im Außen suchte, nur in mir selbst finden kann. Ich weiß nun, dass dieser Halt, mein innerer Anker bereits da ist und es immer war. Doch damals war es für mich unerreichbar. Er lag zu weit unten, zu weit in der Tiefe. Überschattet von all den schmerzlichen Erfahrungen, die ich gemacht habe und bis dahin nicht angeschaut habe, weil ich zu diesem Zeitpunkt meines Lebens dafür nicht bereit war.
„Ich musste mich verlieren, um mich selbst wiederzufinden.
Wiederfinden in all dem Chaos,
wiederfinden im Sturm
mich neu sortieren.
Verstehen, was es zu verstehen gibt,
herausfinden, wer ich eigentlich bin.
Ruhig werden, um das zu hören, was gehört werden will.“
Ein Hoch auf Uns!
Autorin: Antonia Pütz
Ich bin Antonia, bin 23 Jahre alt und wohne derzeit in einem kleinen Dorf in der Nähe von Bonn. Im Sommer 2019 habe ich meine Ausbildung zur staatlich anerkannten Erzieherin abgeschlossen und arbeite nun in einer Kindertagesstätte. In meiner freien Zeit beschäftige ich mich viel mit dem Thema persönliche Weiterentwicklung, welches mich nun schon seit vier Jahren begleitet. Vor einigen Jahren rutschte ich von den anfänglichen Vorhaben ein paar Kilos abzunehmen, in die Anorexie und später in die Bulimie. In der Zeit war ich gefangen, gefangen in meinen Gedanken, die sich fortwährend nur um die Themen Essen und Sport drehten. Als ich angefangen habe mich auf meinen Weg aus der Essstörung zu begeben, habe ich begonnen vieles in meinem Leben zu überdenken und zu verändern. So begann 2016 mein Heilungsweg, der bis heute andauert und mein Leben um 180 Grad verändert hat.