Stehaufmännchen – mein JA zum Leben
„Lani, es ist jetzt schon beinahe ein Jahr her, dass du das erste Mal gegangen bist. Versteh das nicht falsch, ich finde das gut so, solange es dir hilft. Trotzdem möchte ich dir etwas mitgeben, an das du denken kannst, das du in deine Tagebücher schreibst & an das du dich erinnerst, wenn der erste Schnee fällt. Denn diesen Tag werden wir, sehr zu meinem Bedauern, auch dieses Jahr nicht zusammen erleben.“
Das sind die ersten Worte des Briefes, den meine kleine Schwester mir am 21. Oktober 2019 gegeben hat, als ich wegen akutem Untergewicht ins Krankenhaus kam. Ich weine bis heute, wenn ich ihre Worte lese. Sie haben mich tief berührt – so tief, dass sie mein Wundermoment ausgelöst haben. Durch ihre Worte habe ich entschieden, gesund zu werden. Nach vier Tagen Krankenhausaufenthalt, in denen ich nicht gut behandelt wurde, habe ich mich selbst entlassen. Eine wichtige Entscheidung, denn ansonsten wäre ich dort vor ihren Augen verschwunden.
Zuhause war ich dann auf mich allein gestellt und habe noch mehr Gewicht verloren. Eines Abends war ich so schwach, dass ich wusste: Wenn du jetzt nicht kämpfst, dann stirbst du. Also ich habe angefangen zu kämpfen.
Ich wusste nicht, was ich tat, aber ich wusste, dass ich etwas tun muss.
Ich habe mir Fortimel verschreiben lassen und war regelmäßig bei meiner Ärztin. Meine ehemalige Therapeutin hat mich wieder aufgenommen, obwohl ich noch viel zu dünn war. Sie hat an mich geglaubt und kannte meine innere Kraft. Ich selbst habe diese noch nicht mal erahnt.
Langsam nahm ich zu, was ich nicht ausgehalten habe. Eine Nacht habe ich deswegen, wegen Eigengefährdung, freiwillig auf der Geschlossenen Abteilung unseres örtlichen Krankenhauses verbracht. Es war ein bedeutender Moment, denn ich habe das erste Mal für mich selbst gesorgt. Statt mich retten zu lassen, habe ich mich selbst gerettet. Ab da gab es keinen Weg mehr zurück.
Aufgeben war plötzlich keine Option mehr, denn ich habe mich mehrfach gegen den Tod entschieden und dabei gemerkt, wie wertvoll für mich mein Leben ist.
Im Januar hatte ich soweit zugenommen, dass ich mich langsam wieder meiner Leidenschaft, dem Fitnesstraining, widmen konnte. Es war ein Experiment, ich hatte keine Ahnung, ob es klappt. Doch es hat funktioniert, weil ich endlich auf mich und mein Gefühl vertraut und mir Zeit gegeben habe. Sport ist kein Bestandteil meiner Essstörung mehr, sondern bestärkt mich in meinem Kampf gegen sie. Je stärker ich wurde, desto lebensfroher und lebensmutiger wurde ich. Ebenso habe ich viele wunderbare Menschen an meiner Seite, die mich unterstützen und immer an mich glauben, selbst dann, wenn ich es nicht kann.
Nach vier Monaten Kampf habe ich endlich einen Klinikplatz in einer auf Essstörungen spezialisierten Klinik zugesichert bekommen. Außerdem erkämpfte ich mir meinen Ausbildungsplatz zur Krankenschwester, was mein absoluter Traumberuf ist.
Seit ich angefangen habe, mir selber mehr Beachtung zu schenken, ist so viel Farbe und Sonnenschein in mein Leben gekommen.
Es fühlt sich manchmal wie wunderschöne Magie an und ich kann mit Worten nicht beschreiben, wie dankbar ich bin. Dankbar für all diese Augenblicke, meine Menschen, jedes liebe Wort und für jede noch so kleine Geste. Manchmal weine ich, weil ich emotional nicht begreifen kann, wie sehr ich mich innerhalb des letzten Jahres verändert habe und sich mein Leben dadurch gewandelt hat. Natürlich habe ich immer noch oft Ängste und Zweifel. Manchmal kommt die Idee erneut auf, der Essstörung wieder mehr Raum zu geben. Denn es scheint erstmal „leichter“, krank zu bleiben, als gesund zu werden.
Aber ich will leben und das kann ich mit der Essstörung nicht. Ich musste mich entscheiden und ich habe mich entschieden.
Deshalb erinnere ich mich in solchen Momenten immer wieder an die Dinge, die ich schon geschafft habe.
Ich weine, ich schreie und ich verzweifle, aber dann tröste ich mich, nehme mich selber in den Arm, wische meine Tränen weg und stehe wieder auf. Ich höre nicht auf zu kämpfen, nur weil es Momente der Dunkelheit gibt. Die wird es immer geben, aber ich entscheide, ob ich mich von ihnen verschlucken lasse oder ob ich sie akzeptiere und annehme, um sie dann loslassen zu können. Daran merke ich, dass ich mich endlich selber gefunden habe, und auch, wenn ich immer noch krank bin und noch ein weiter Weg vor mir liegt, spüre ich nun zum ersten Mal, dass ich es schaffen kann, dass ich stark und mutig genug bin, um die Essstörung als Halt in meinem Leben aufzugeben und allein zu stehen. Ich habe endlich laufen gelernt und ich bin neugierig auf das, was vor mir liegt.
Ich möchte noch weiter (über mich hinaus) wachsen, um irgendwann lächelnd zurückblicken und sagen zu können: „Es war schwierig und ich wollte oft aufgeben, doch ich habe es geschafft.“
Autorin ist Lani Pott
Ihr findet die wundervolle Lani Pott:
bei Instagram als @lilalanii