ProAna – Komm, ich helfe dir zu sterben!
„Will ich leben oder will ich sterben?“
Mit dieser Frage stellte ich mich, nach über sechs Jahren Essstörung, persönlich vor die Wahl. Es war für mich, mein entscheidender Moment, der endlich mein Denken in eine andere Richtung lenkte. Die Magersucht hatte sich in all den Jahren nicht nur in meinem Kopf, sondern auch in meinem Herzen und meiner Seele eingenistet. So viele Jahre habe ich damit verbracht, im Außen eine Scheinwelt aufzubauen. Dazu zählte stets mich in Arbeit zu stürzen, Leistung zu bringen und den Ansprüchen anderer gerecht zu werden. In mir drinnen lebte Ana- meine beste Freundin und zugleich Feindin.
ProAna ist eine Abkürzung und steht für die Krankheit Magersucht bzw. Anorexia Nervosa. Sie kann ein Schlüssel zu einer Parallelwelt sein, in der Hungern zelebriert wird und hervorstehende Knochen als Erfolg und Schönheit gelten. Der Einstieg damals in eine dieser Gruppen war für mich, rückblickend der Punkt, an dem ich mich in der Krankheit verlor. Nun hatte sie nicht nur einen Namen bekommen, sondern war darüber hinaus, personifiziert zu einer Art zweites Ich geworden. Die „Cinderellas“ nannte sich meine Gruppe und mit Anas Brief wurde ich in der Gruppe begrüßt. „Mein vollständiger Name, oder wie ich von sogenannten Ärzten genannt werde, ist Anorexie nervosa, aber du kannst mich Ana nennen. Ich hoffe, wir werden gute Freunde.“
In der Gruppe herrschten strenge Regeln. Geheimhaltung, insbesondere der Familie gegenüber, war oberste Priorität. Der Tag startete mit der Waage. War es wieder weniger geworden fühlte ich mich für einen kurzen Moment happy. Eine Welle des Glücks durchfuhr mich, denn ich hatte zumindest dieses Ziel erreicht: Ich hatte abgenommen. Zusätzlich verband ich damit auch immer, dass ich wieder Leistung erbracht hatte. Sobald ich von der Waage stieg war das stolze Gefühl weg. Mein alltäglicher Kampf begann. Erster Gegner war das Frühstück und schon beim Gedanken daran, schnürte sich mir die Kehle zu.
Bis zu zwanzig Mal täglich stieg ich auf die Waage. Sie war mein Wegweiser und ich brauchte sie überall. Vor dem Händewaschen, nach dem Baden, nach dem Joggen. Immer wieder war ich getrieben von Zwängen. Die Gewichtsanzeige der Waage wurde anschließend in die Gruppe gepostet. Hier fand der „Wettkampf“ mit dem Kriterium: „Wer hatte am meisten abgenommen?“ statt.
Die vorgegebene Grenze für die tägliche Kalorienzufuhr lag bei 500kcal. Davon sollte fast die Hälfte (200kcal) durch Sport wiederum verbrannt werden. Belohnungen oder spontan essen, das gab es nicht mehr. Alles musste schon Tage im Voraus geplant werden. Dabei kreisten meine Gedanken so oder so den ganzen Tag darum, was ich esse, wie ich es esse und vor allem, wie es am wenigsten an meinem Körper ansetzte.
Eine Fitnessapp sollte uns Mitglieder dabei helfen, genau zu protokollieren, welche Lebensmittel wie viele Kalorien haben.
Anfangs fühlte ich mich eingeengt und auch nackt, mich und meinen Körper so in dieser Gruppe präsentieren zu müssen. Gegensätzlich dazu ermutigten und „motivierten“ die Mitglieder mich immer wieder, indem sie mich an sogenannte „Thinspirations“. Das sind Bilder mit sehr dünnen und ausgemergelten Körpern von Frauen. Besonders die sogenannte „Tigh Gap“ und ein hervorstehendes Schlüsselbein galten als erstrebenswert. Eine Erklärung hierfür könnte sein, dass Knochen in Anas Welt, für rein und sauber, wohingegen Fett am Körper, als dreckig und wie ein Parasit am Körper hängend gesehen wurde..
Wer die Regeln nicht einhielt, bekam eine Abmahnung. Danach folgte der Rausschmiss.
Ein weiteres Ziel der Gruppe ist das Finden von sogenannten „Twins“. Gleichgesinnte, um sich weiterhin zu motivieren, gemeinsam zu hungern und Anas Zielen gerecht zu werden. Perfekt zu werden. Ana verspricht, wer dünn ist, der hat Erfolg und ist glücklich. Wer isst, ist schwach und hat es nicht verdient zu leben.
Im ständigen Kampf um Anerkennung und meinem Ziel, endlich für etwas gut genug zu sein, eiferte ich mit den anderen mit. Ich wünschte mir so sehr, dazuzugehören, Kontrolle über meine Leben zu bekommen. Dabei merke ich nicht, wie die Krankheit begann mich zu kontrollieren.
„Wenn du isst, wirst du die Kontrolle verlieren.“
Der Wunsch nach Kontrolle. Es hat sich damals förmlich in mir verankert. Es gab einfach Tage, da fühlte ich mich überfordert, nicht stark genug für diese harte Welt der Leistungsgesellschaft. Also flüchtete ich. Eine Flucht in eine ganz andere, von mir erschaffene Welt. Ana wurde zu meiner Lebenspartnerin und Fluchtort. Ihre Stimme war immer in meinem Kopf. Im Supermarkt schrie sie mir die Kalorien entgegen. Mit jedem Kilo, das ich weniger wog, verspürte ich mehr Kontrolle über mein Leben. Ich erhielt Anerkennung über meine Figur, die Disziplin, meinen Bedürfnissen widerstehen zu können. Ich fühlte mich endlich gut genug für etwas. Eine Handvoll Cornflakes, das war meine Ration am Tag. Viel zu wenig, um noch wirklich am Leben teilnehmen zu können.
„Hungern und Nahrungsverweigerung sind Zeichen wahrer Stärke.“
Diese Gruppen sind kein Spaß, sondern lebensgefährlich. Keiner der jungen und meist schwer untergewichtigen Mädchen bezeichnet sich hier als krank. Hungern wird als Lifestyle gesehen, nicht als Krankheit. Die anderen Mitglieder waren meine damalige „Familie“. Sie verstanden mich, kannten das Gefühl der Leere und der Glaube daran, ich müsse nur hart genug an mir und meinem Körper arbeiten- am Ende würde mich Ana belohnen oder?
Mit der Zeit wuchsen meine Selbstzweifel. Auch wenn ich immer mehr verschwand, verlor ich mich und meinen Körper umso mehr. Ich sah mich nicht mehr. Hatte keine Ahnung, wie dünn ich wirklich war. Die immer kleineren Kleidergrößen hielt ich teilweise für gelogen. Ich spürte keinerlei Grenzen, wo mein Körper begann und wie er aussah. Mein Körper fing an zu rebellieren. Meine Haare fielen aus, die Nägel wurden brüchig, trockne Haut, meine Periode blieb aus und ich fror immerzu. Hinzu kamen Schwindel und Ohnmacht. Ich versteckte meinen Körper die meiste Zeit unter mehreren Schichten Kleidung. Nachts lag ich eingekauert im Bett und mein Magen schrie. Alles schmerzte und schrie verzweifelt nach Hilfe und Veränderung. Trotzdem ertrug ich die Qualen. Ich war sogar besorgt, wenn meine Haare nicht mehr ausfielen. Denn dies hätte bedeutet, ich hätte zugenommen. Heute weiß ich, dass die körperlichen Schmerzen für mich eine Art Schutzfunktion waren, um die seelischen, innerlichen Schmerzen erträglicher zu machen. Ich bestrafte meinen Körper für die Wunden meiner Seele. Die Essstörung war ein Hilfeschrei meiner Seele gewesen.
Ich hatte damals viel zu sehr Angst diese Krankheit gewissermaßen aufzugeben. Mein Ausstieg aus der Gruppe war nicht einfach. Doch es gab einen Punkt, an dem ich wusste: „Ich bewege mich auf dünnem Eis.“ Meine Angst war vor allem, von meinen Eltern in eine Klinik eingewiesen zu werden. Über eine Sonde zwangsernährt zu werden. Manche Mitglieder der Cinderella–Gruppe hatten genau dies erlebt. Das wollte ich auf keinen Fall.
Mein Fazit lautete: Ich musste diese Gruppe löschen.
Auch nach meiner Zeit mit ProAna blieb eine Leere in mir. Immer wieder hatte ich depressive Episoden, während derer ich an Heilung kaum mehr glaubte. Doch in mir blieb ein Kampfeswille und eine Überzeugung, dass ich das ganze irgendwie überleben würde. Und dann kam der Tag, der alles ändern sollte. In der vorangegangenen Nacht lag ich mal wieder mit Magenschmerzen da und meine Gedanken kreisten nur um das Essen und Nicht-Essen des nächsten Tages. Ich stieg aus meinem Bett und schaute, mehr aus Gewohnheit, um meinen Zwang nach Überprüfung meines Körpers nachzugehen, in den Spiegel. Doch dieses Mal blickte ich mir aufrichtig in die Augen und sah MICH. In meinem Kopf war nur dieser eine Satz: „Willst du leben oder sterben?“
Ich machte einen kompletten Neustart mit mir selbst. Von nun an wollte ich nicht mehr verschwinden. Nein, ganz im Gegenteil – ich wollte mich endlich wieder lebendig fühlen. Jetzt hieß es, Babysteps auf dem Recovery-Weg gehen. Dazu zählte unter anderem, essen als Grundbedürfnis wieder zu erlernen. Ich musste mich wieder fühlen und meinen Körper wieder spüren lernen, anstatt ihn länger als Feind anzusehen.
Mein Problem war, dass ich all die Jahre vor mir selbst weggerannt bin. Jegliche Gefühle hatte ich unterdrückt und schlichtweg ausgehungert. Mit der Zeit erkannte ich, dass Essen nie mein Problem war. Es waren alte Gefühle, Traumata die ich nie aufgearbeitet hatte. Mit jedem Kilo mehr und der Berührung meiner selbst, begegnete ich mir als Person wieder neu. Ich fing an, ein Mitgefühl für mich zu entwickeln. Mein Körper wollte nie krank werden, es war meine Seele, die ihn krank machte, damit ihm endlich jemand (ICH) zuhörte.
Heute habe ich keine Angst mehr vor dem Essen. Ich brauche auch keine Kleidergröße XS mehr oder hervorstehenden Knochen, um meinem Außen zu sagen, dass es mir nicht gut geht. Ich habe für mich meine eigenen Methode entwickelt und seither hatte ich nie wieder einen Rückfall. Ich habe Frieden mit meinem Körper geschlossen. Meine Mission ist es, mit meinen Erfahrungen, anderen zu helfen und ihnen eine andere Sicht auf die Thematik „Essstörungen“ zu geben.
Ein Hoch auf Uns!
Autorin: Julia Steppat
- Julia ist 23 Jahre alt
- Psychologiestudentin
- Ernährungsberaterin (zertifiziert)
- Ehrenamtlich tätig bei Anad e.V. in der Peer-Beratung
- Gründerin von Re.Ease
Instagram: @seelenmut & @re.ease
Etsy-Shop: Das EASE- Tagebuch
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