Ich will NORMAL sein Wie meine Heilung mit meiner Definition von NORMAL begann.
Liebe Leserinnen und Leser,
ich beginne meine kleine Geschichte, als der dunkle Tunnel noch mit vielen Felsbrocken verstopft war und ich das Ende des Tunnels noch kaum mit bloßem Auge erkennen konnte. An dem Punkt, an welchem meine Geschichte beginnt, hatte ich schon einige Jahre in dem dunklen Tunnel verbracht. Vor mir türmte sich ein Berg an Felsbrocken, der für mich bislang unüberwindbar scheint.
Felsbrocken 1: ICH MUSS ÜBERALL DIE BESTE SEIN
Realschulabschluss: 1,25
Abitur: 1,5
Ausbildung: 1,0
Ohne Fleiß kein Preis oder? Ich habe mit Fleiß einige Herausforderungen gemeistert. ABER welchen Preis habe ich dafür bezahlt?
Meine Standard-Ausrede vor mir selbst lautete: „Ich kann halt nicht anders, ich bin halt so, ich kann nicht einfach nichts tun, ich kann nicht einfach NICHT mein Möglichstes geben“.
Nichts tun? Eine Horrorvorstellung – Verlorene Zeit! Ich habe doch eh so wenig Zeit, also warum diese dann auch noch mit Entspannen oder Nichtstun vergeuden?
Mein Anspruch an mich, immer die Beste sein zu müssen, beschränkte sich nicht nur auf schulische oder berufliche Dinge. Nein – ICH musste auch die beste Hobby-Flötistin, die beste Hausfrau, die beste Tochter, die beste Enkeltochter, die beste Freundin, die beste Schwester und die beste Lebensgefährtin sein.
Aber wie war ich wirklich? Ganz eindeutig: Nach außen HUI und nach innen PFUI!
Bei Außenstehenden, wie beispielsweise Freunden und Arbeitskollegen war ich die aufgeweckte, lebensfrohe junge Frau. Und innerlich? Das von Zwängen gesteuerte Kind, das einfach geliebt werden will. Kaum öffnete ich die Wohnungstür nach einem langen Arbeitstag, fiel die Maske tagtäglich ab und ich war das PFUI in Person. Und wer bekam es zu spüren? Der Mensch, dem ich am meisten vertraue… mein heutiger Verlobter. (die arme Sau !)
Im Sommer 2019 bekam der Felsbrocken erste Risse. Nach einer psychisch und körperlich sehr stressigen Anstellung in Vollzeit, entschied ich mich 2018, meine Leidenschaft zum Beruf zu machen. Ich begann eine Ausbildung zur staatlich anerkannten Chor- und Ensembleleiterin mit Fachrichtung Klassik und als Hauptfach Querflöte. Nach einem Schuljahr erkannte ich unbewusst jedoch, dass ich die Ausbildung zwar schaffen werde, aber niemals die Beste des Jahrgangs sein kann. Das Bestreben dennoch irgendwie die Beste zu werden, raubte mir meine letzte Kraft und ich kam kaum mehr zum Atmen. Ich war 24/7 auf Hochspannung und musste ständig irgendwas lernen, üben oder arbeiten. Es war definitiv zu viel und führte dazu, dass ich nicht mehr konnte. Als Konsequenz daraus brach ich die Ausbildung ab und stieg wieder in meinen alten Beruf bei einer neuen Firma ein.
Ich muss nicht die Beste sein!
Ich darf MEIN Bestes geben, ich darf mich bemühen, aber ich darf auch leben! Mein persönliches „NORMAL sein“ nahm langsam Gestalt an. Ich will entspannt sein und das Leben mit Lebensfreude und Leichtigkeit genießen können.
Nach und nach wurde der Felsbrocken kleiner und ist bis heute zumindest auf eine überschreitende Größe geschrumpft.
Felsbrocken 2: KONTROLLE IST DAS A UND O
„Okay, auf deinem Teller liegt ein großer Löffel Spinat 150kcal, ein kleines Stück Fisch 100 kcal, Salatblätter mit Gurke, Tomate, Roter Beete und Karotte samt Balsamico Essig 150 kcal und eine von den köstlich aussehenden angebratenen Ravioli 250kcal. Gut der erste Teller mit 700 kcal. Was hattest du tagsüber, einen Apfel, 200 ml Orangensaft und eine Scheibe Brot, gesamt grob 500 kcal, bleiben dir noch 600 kcal für den 2. Teller. Gut, dass du für alle Speisen die Kalorien etwas höher ansetzt, damit du ja nicht unkontrolliert zu viel isst!“.
Urlaub bedeutete für mich absoluter Kontrollverlust! Anstatt das köstliche Essen und die wunderschöne mexikanische Aussicht zu genießen war ich versunken in meinen Gedanken und der Kalkulation und Addition der einzelnen Bestandteile meines Tellers.
Ich kontrollierte alles haargenau, jeder einzelne Bissen von morgens bis abends war exakt geplant.
Die Küchenwaage, der Taschenrechner, die Kalorien-Tabellen im Internet und ein Notizzettel waren meine täglichen und vertrautesten Begleiter. Natürlich alles nur um zuzunehmen und ja nicht zu wenig zu essen, glaubt ihr mir es noch? Also ich glaubte es mir kaum selbst mehr.
Nicht nur das Essen wurde kontrolliert, jeder Tag war genau zeitlich durch getimed. Regelmäßig erstellte ich mir Zeitpläne, um ja auf meine tägliche Bewegung zu kommen und alle „unbedingt-Must-do ´s“ zu schaffen. Ob ich Pausen für Essen oder Entspannung einplante? Wertvolle Zeit verschwenden? Papalapap!
Nach und nach erweiterte sich meine Definition von „NORMAL“ zu, ich will meinen Kopf frei bekommen und endlich wieder das Leben bewusst wahrnehmen. Auch dieser Felsbrocken schrumpfte nach und nach. Zwar „ploppen“ die Kalorienzahlen in meinem Kopf manchmal noch wie Banner in meinem Kopf auf, aber ich kann den Stein überschreiten und die Zahlen immer leichter hinter mir lassen.
Felsbrocken 3: LÜGEN AUS SCHAM
„Ich habe einen Reizdarm, der sucht sich jeden Tag etwas anderes aus, was er nicht verträgt, aber bei manchen Dingen wie z.B. Käse, Milch und Sahne da reagiert er einfach immer“, „Danke, ich habe heute Morgen so ein großes Omelett gefrühstückt, ich habe keinen Hunger“.
Zwei Beispiele aus einer Reihe von Lügen oder Aufbauschereien von Beschwerden! Ich log, dass sich die Balken bogen, regelmäßig, eigentlich täglich. Nur um irgendwie den Schein zu wahren, dass ich nichts dafür konnte so dünn zu sein und ich ja richtig viel aß. Ich bekam Mitleid und Aufmerksamkeit. Ich schob die Verantwortung für mein Aussehen von mir. Und all das, obwohl ich es seit meiner Kindheit hasse, Lügen erzählt zu bekommen oder selbst zu lügen.
„Normal“ sein. Ich möchte nicht mehr lügen müssen!
Diesen Felsbrocken habe ich mit einem Hammer zerschlagen. Es entspricht einfach nicht mir selbst zu lügen. Ich habe mir selbst versprochen, über mich selbst nie wieder eine Lügengeschichte zu erfinden. Mein erster Schritt war es, auch vor Außenstehenden zugestehen, dass ich an einer Essstörung leide. Es hat sich so gut angefühlt die Wahrheit endlich auszusprechen.
Felsbrocken 4: ICH MUSS DIE SCHÖNSTE SEIN
Schlank, straff, gesunde dicke Haare, reine makellose Haut, eine strahlende Aura. DAS ist schön. Und ich? Meine Haare erholen sich zwar langsam von dem Haarausfall, aber als schön kann ich sie auch nicht bezeichnen. Meine Haut ist voller Pickel und Mitesser, mein Körper viel zu dürr und irgendwie trotzdem schlaff, meine Aura grau. Seit 6 Jahren im Untergewicht und seit bestimmt 5 Jahren finde ich mich damit abgrundtief hässlich und unweiblich.
Der Felsbrocken wuchs mit ca. 15 Jahren von Kieselsteingröße auf Steingröße heran und wurde nach und nach immer größer. Er trug dazu bei, dass ich von Diätverhalten über Diätverhalten in eine handfeste Essstörung rutschte. No-Carb, Kleinkinderportionen und Einsparung von Mahlzeiten katapultierten mich in rasender Geschwindigkeit ins Untergewicht. Das letzte Jahr im Untergewicht war geprägt von „Bestrebungen“ das Körper-„Problem“ zu lösen. „Ich will wirklich zunehmen“ log ich nicht nur mir selbst vor. Aber die Gedankendauerschleife blieb: „1.800 kcal müssen zum Zunehmen reichen, ich will ja nicht fett werden“, „Ich habe 200g Haferflocken bei dieser Mahlzeit eingeplant, nicht 201g oder 199g!“, „Low-fat Produkte sind viel besser, ich will ja schließlich nicht schwabblig werden“, „Ich muss mich jeden Tag mindestens eine Stunde bewegen, sonst werde ich fett“.
Der Versuch von Außen nach Innen gesund zu werden scheiterte wieder einmal gnadenlos:
22:30 Uhr, ich liege auf dem Wohnzimmerboden, die Beine auf der Couch erhöht abgelegt mit einem Pickup in der Hand. Eigentlich ist mir nach der Salatschüssel voll mit 250g Haferflocken, 700 ml veganer (kalorienarmer) Milch, 2 Äpfeln, 1 Birne und 200 g Erdbeeren schon mehr als schlecht. Mein Bauch spannt, aber ich beiße liegend in das Pickup, verschlinge es binnen Sekunden. Bei dem folgendem Schokomüsli, dem Nutellatoast, den 3 Kinderschokolade-Riegeln und den 3 Tassen Trinkkakao dauert es nicht viel länger bis sie in meinem Magen landen. Mir ist so übel, dass ich den Weg ins Bett kaum noch schaffe. Der letzte Gedanke vorm Einschlafen ist natürlich: „um das wieder gutzumachen darf ich morgen tagsüber nichts essen“. Ich fühle mich hundeelend, finde mich eklig und abscheulich. Das war die letzte Phase meiner Essstörung, Intervallfasten 21:3.
Die Sonne scheint mir ins Gesicht, ein leichter Wind weht mir durch die Haare. Ich fühle mich pudelwohl. „Schatz, mach deine Augen auf“. Und da kniet er. Mit Tränen in den Augen und einem Ring in der Hand. Ich lache und weine gleichzeitig, der ganze bayerische Wald hört mich und es ist mir egal. Das Lachen ist ungewohnt, tut fast schon weh, aber der Felsbrocken hat einen großen Riss bekommen.
Ich bin geliebt! Er liebt mich, MICH! Genau so wie ich gerade bin! Egal ob untergewichtig oder nicht, ich bin gut und wertvoll, liebenswert und geliebt.
Meine Definition von „Normal“ nahm langsam richtig Gestalt an. Ich will mich endlich selbst lieben können. Mich selbst liebevoll behandeln, liebevoll mit mir sprechen. Denn wie soll ich diesem wunderbaren Menschen Liebe entgegenbringen, wenn ich mich selbst so hasse?
Mit meinem Internet-Fund, der intuitiven Ernährung, war mein Bild vom „Normal sein“ komplett und ich war bereit meine Reise in ein glückliches, gesundes Leben anzutreten.
Ein Stück des dunklen Tunnels liegt noch vor mir. Aber so begann mein Weg zum Ausgang. Mit der Definition von „Normal“ sein.
Ein Hoch auf uns!
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