Von Zerrissenheit und Frieden und einem Ritterschlag Gottes
Die Wurzeln Teil 1
Wurzeln schlug die Anorexie in meinem Leben schon, lange bevor sie nach außen hin als solche sichtbar wurde. Als Kind verschwendete ich kaum Gedanken an mein Aussehen und war sogar stolz darauf, dass das Thema Gewicht mich nicht interessierte. Doch das änderte sich schlagartig im Alter von 12 Jahren. Anlass war, dass einige meiner Freundinnen beschlossen, um des Abnehmens willen auf Süßigkeiten zu verzichten. In dem Moment war mein Gedanke: „Wenn sie keine Schokolade essen, werde ich das auch nicht tun!“ Damals empfand ich es als Akt der Solidarität, doch rückblickend muss ich sagen, dass es viel mit Leistungsdenken zu tun hatte. Ich musste (vor allem mir selber) beweisen, dass ich das, was sie konnten, auch konnte. Und zwar mindestens genau so gut oder noch besser. Und so war sie da, die Stimme der Essstörung, von jetzt auf gleich. Ich stellte mir selber Regeln fürs Essen auf, bald danach auch für Sport. Es war zwar zu dem Zeitpunkt nicht gesundheitlich bedenklich, doch die Gedanken und Verhaltensweisen wurden sehr schnell sehr rigide. Wenn ich etwas mache, dann mache ich es ganz, und so auch in diesem Fall. Nach nur wenigen Wochen merkte ich, dass meine Gedanken viel mehr um das Thema Essen kreisten, als gut war – dass ich regelrecht fixiert war auf dieses Thema. Und so kam die innere Zerrissenheit in mein Leben, die viele Jahre lang mein Begleiter bleiben sollte.
Die Wurzeln Teil 2
Diese Vergötterung meiner Essensregeln, das entsprach überhaupt nicht meinen Werten! Seit meiner Kindheit hatte ich einen tiefen Glauben an den christlichen Gott entwickelt, wobei Glauben eine unzureichende Beschreibung ist, denn für mich ist es eine Beziehung. Ich bin Gottes Kind. Er ist mein Schöpfer. Er liebt mich, kümmert sich um mich und hat alles für mich getan. Und aus diesem Grund wünsche ich mir damals wie jetzt, nach Seinem Herzen zu leben. Doch mit den zwanghaften Essensregeln passierte das Gegenteil. Ich lebte dadurch in einer ständigen Konkurrenz zu anderen, war unzufrieden mit mir selber, hatte Angst vor Essenssituationen, die nicht nach meinen Regeln laufen konnten, und hatte in meinem Kopf immer weniger Platz für schöne und bedeutsame Dinge. Und vor allem war mir bewusst, dass meine Motivation verdreht war. Es ging mir nicht um eine gesunde Ernährung, sondern darum, mich durch etwas Äußeres besonders zu fühlen. Dieses besonders Sein, das war ein großes Thema, denn ich hatte zwar immer gute Noten in der Schule, hatte jedoch extreme Angst, dass eine Schularbeit mal schlecht ausfallen würde. Denn dann wäre dieser Grund des besonders Seins ja dahin. Also lieber noch etwas anderes, etwas Sicheres haben, das mich besonders machte.
Die Wurzeln Teil 3
Ich spürte, dass die Besessenheit mit dem Essen nicht das war, was ich eigentlich wollte, was mich ausmachen sollte. Und doch konnte ich sie nicht mehr loslassen. Von Anfang an tobte ein Kampf in meinem Inneren, und ich stand auf beiden Seiten gleichzeitig. Ich hasste und liebte die Essstörung. Vom ersten Moment an war sie ein bittersüßer Begleiter, den ich umarmte, obwohl ich das Gefühl hatte, ich sollte ihn eigentlich wegschieben. Zu dem Zeitpunkt war es noch nicht mal so, dass es sich gut anfühlte. Nur andersrum fühlte es sich schlecht an, wenn ich meinen Essensregeln gegenüber versagte. Das, was so schnell ein Teil von mir geworden war, konnte oder wollte ich nicht mehr hergeben. Damals waren die Essensregeln zwar streng, aber die Menge war gerade noch in Ordnung, so dass ich im unteren Bereich des Normalgewichts blieb. So konnte die Essstörung weitgehend ungestört ihre Wurzeln ausbreiten und sich immer mehr festsaugen. Meine Regeln wurden strenger und meine Reaktionen, wenn ich sie mal nicht ausführen konnte, seltsamer. Aber ich wahrte das Gesicht. Schließlich war ich auch ein Harmoniemensch und wäre nicht auf die Idee gekommen, dem Mittagessen mit meiner Familie auszuweichen. Und ich wollte alles tun, um ihnen keine Sorgen zu bereiten.
Zuspitzung und Zerrissenheit Teil 1
Der große Tag meiner Anorexie kam, als ich fürs Psychologie-Studium aus meinem Elternhaus auszog, weit weg nach Berlin. Plötzlich konnte ich das, was sich über Jahre in meinem Kopf entwickelt hatte (mit meiner Erlaubnis) ausleben! Aus den gut genährten Wurzeln spross eine kräftige Pflanze. Das, was sich bisher hauptsächlich in meinem Inneren abgespielt hatte, fand jetzt auch äußerlich statt. Innerhalb von kurzer Zeit nahm ich stark ab. Es fühlte sich gut an. Doch mit dem Gedeih der Anorexie wuchs auch die innere Zerrissenheit. Denn jetzt waren es nicht mehr nur die ungesunden Gedanken, sondern auch das ungesunde Verhalten, hinter dem ich doch eigentlich überhaupt nicht stand. Ich wollte nicht wegen des Dünnseins besonders sein – doch, wollte ich! Es war nicht mein Ziel, meinem Körper zu schaden – aber ich wollte um jeden Preis die Zahl auf der Waage senken! Das Letzte, was ich wollte, war, meine Eltern und Freunde und auch Gott, meinen geistlichen Vater und Freund, traurig zu machen – aber ich hatte das Gefühl, nicht anders zu können. Ich wollte nicht gefangen sein – aber ich wollte das dünn Sein behalten! Es war längst zu einem Teil von mir geworden, den ich nicht mehr wegdenken konnte.
Zuspitzung und Zerrissenheit Teil 2
Die Zerrissenheit machte mich fertig, denn ich war ständig im Kampf gegen mich selber, sowohl gegen den gesunden als auch gegen den verdrehten Teil. Doch die Zerrissenheit führte auch dazu, dass ich nie in einen lebensbedrohlichen Zustand kam. Denn immer wenn ich einen körperlichen Tiefpunkt erreichte (und manchmal auch schon ein bisschen früher), schaffte ich es, mich an Gott und den Funken Vernunft zu klammern und mich wieder ein bisschen aufzurappeln. Die Zerrissenheit hielt mich davon ab, aus der Essstörung rauszukommen – aber auch davon, mich bis in ihre tiefste Tiefe fallen zu lassen. Ich war mehrmals nah dran, aber es gab immer einen Punkt, wo der Wunsch, mich auf Gott zu besinnen, schier unmögliche Schritte (z.B. einen Löffel Müsli zu essen) wieder möglich machte.
Zuspitzung und Zerrissenheit Teil 3
Was mir besonders half waren zwei wichtige Personen in meinem Leben, denen gegenüber ich ein „Commitment“ eingehen konnte. Das war ein bisschen so, als würde jemand von außen mir die Erlaubnis geben, dass es mir besser gehen durfte und mir sagen: „Es ist wirklich schlimm genug, und du darfst etwas ändern.“ Das milderte das Gefühl der Niederlage minimal ab, machte es nicht einfach, aber möglich, wieder ein bisschen mehr zu essen. Bis dann die andere Stimme, die des Versagens und des Ekels, wieder so laut wurde, dass ich irgendwann ihr wieder nachgab. So war es über Jahre ein ständiges Schwanken zwischen Untergewicht und unterem Normalgewicht. Der Kampf um jeden Bissen, den ich zu mir nahm, aber auch um jeden Bissen, den ich nicht zu mir nahm. Und immer mehr und kompliziertere Pläne, um dem Essen fernzubleiben bzw. mich davon abzuhalten.
Vom Schneeball zur Lawine Teil 1
Im Lauf von mehreren Jahren setzte ich mich mit verschiedenen Themen auseinander, die für die Aufrechterhaltung der Essstörung wesentliche Rollen spielen. Doch am Ende war die Essstörung immer noch da. Sie hatte sich selbstständig gemacht. Wie ein Schneeball, der zuerst ganz klein ist, aber dann, einmal ins Rollen gebracht, immer größer, stärker und zerstörerischer wird und schließlich eine ganze Lawine auslöst, die nicht mehr aufgehalten werden kann. Auch wenn ich wusste, dass es nicht der Wahrheit entsprach, war das Gefühl, dass die Anorexie (ich wagte damals kaum, sie als solche zu bezeichnen, weil ich zwischendrin ja immer mal wieder normalgewichtige Phasen hatte) richtig sei, so stark, dass ich mich nicht davon lösen könnte. Sie fühlte sich warm und vertraut an, wie ein Zuhause. Der Gedanke, sie nicht mehr zu „haben“, fühlte sich hingegen so falsch und bedrohlich an, dass ich es kaum aushielt. In den Phasen, in denen es mir äußerlich besser ging, war es immer ein „Ertragen“. Ich konnte ein etwas höheres Gewicht dann gerade so aushalten – bis ich es eben nicht mehr konnte. Dieses „Ertragen“ suggerierte mir erst recht, dass ein Normalgewicht etwas ganz Schlimmes sei. Und so verfestigte sich die Anorexie gerade in den scheinbar „besseren“ Phasen weiter. Ebenso die Zerrissenheit. Ich sollte mich doch gut ernähren – aber ich durfte nicht! So mit mir umgehen? Nein. Aber ich musste, weil die Anorexie es sagte (und ich hatte ihr die Stimme gegeben)! Hätte ich einfach aufgehört, dann wäre alles zunichte. Ich konnte es nur falsch machen.
Vom Schneeball zur Lawine Teil 2
In einem Liebes- und Hassbrief an die Anorexie beschrieb ich es so: „Jetzt liebe ich dich einfach, weil du da bist. Du bist in mein inneres „Liebes-Zentrum“ hineingekrochen, und da bist du nun. Es gibt kein „Ich liebe dich, weil“ mehr, sondern nur noch „Ich liebe dich, obwohl“. Wenn ich aufhören würde, dich zu lieben, was würde dann passieren mit all den Jahren, die wir zusammen verbracht haben?“ „Ich darf“ zu sagen fühlte sich falsch, bedrohlich, ja tödlich an, als die größte Niederlage überhaupt und ein Verlust meiner Existenz. Ja, wenn ich die Anorexie aufgegeben hätte, hätte ich das Gesicht vor mir selber verloren und hätte nicht mehr mit mir weiterleben können – so dachte ich. Für die Anorexie und gegen die Anorexie, gleichzeitig, ein Kampf gegen den Kampf. Denn ich wusste, ich musste doch nur loslassen. Aber ich konnte nicht oder wollte nicht, da gab es irgendwann keinen Unterschied mehr. Und zugleich war es nicht schlimm genug. Obwohl mein Körper zwar erstaunlich widerstandsfähig war, laugte mich das ständige gewichtsmäßige Hin und Her doch irgendwann extrem aus. Aber ich schaffte es, mich weiter durch die Tage zu schleppen. Also konnte es doch noch nicht zählen, also war ich noch nicht richtig magersüchtig. Und wenn ich die Anorexie nicht wirklich „hatte“, durfte ich sie auch nicht „loslassen“.
„Du darfst“ Teil 1
Schließlich gab es eine Nacht, in der mein Körper streikte und ich mich elender fühlte als je zuvor. Am nächsten Morgen beschloss ich: So kann es nicht weitergehen. Ich könnte mein Leben für immer so leben, gerade so überleben. Aber es ist ein klägliches Leben, und das will ich nicht mehr! Das war ein schöner Entschluss. Aber die Zerrissenheit war ja noch da, und nach diesem mutigen Vorsatz bäumte sich die Anorexie noch mal mit neuer Macht auf. Mittlerweile hatte sich die innere Zerrissenheit so ausgeweitet, dass ich eine übermäßige Härte mir selber gegenüber in allen Lebensbereichen entwickelt hatte- Während ich zwar schon immer diszipliniert gewesen war, aber ich früher, auch noch zu Beginn der Essstörung, mir gerne mal etwas Gutes getan hatte und genießen konnte. Die Ungnade gegen mich selber war so stark, dass ich mich irgendwann gar nicht mehr spüren konnte. Es kam mir sogar so vor, als würde ich nur noch das denken können, was ich glaubte denken zu sollen. Das war für mich so, als hätte ich mich selber verloren.
„Du darfst“ Teil 2
Die rapide Verschlechterung stellte sich im Nachhinein als Segen heraus, denn bald ging es mir körperlich und seelisch so schlecht, dass ich es mir endlich erlauben konnte, einen stationären Klinikaufenthalt in Anspruch zu nehmen. Dort passierten so viele Dinge. Was für eine Erleichterung, als meine Therapeutin die Essstörung endlich als „Anorexie“ bezeichnete. Damit konnte ich, symbolisch gesprochen, meine Finger, die die Anorexie so fest umklammerten, ein kleines bisschen öffnen. Es gab mir sozusagen die Erlaubnis dazu. Auch aufs Essen bezogen immer wieder zu hören: „Sie dürfen. Essen ist okay.“ In meinem Kopf war ja nur „Du darfst nicht“ vs. „Du musst.“ Aber „Du darfst“ hatte einen ganz neuen Klang. Dann würde ich ja doch nicht komplett das Gesicht vor mir selber verlieren. Ich konnte die Finger ein bisschen weiter öffnen. Ich merkte, wie mein Wille, den die Anorexie „gekidnappt“ hatte, zurückkehrte. Das fühlte sich schon mehr nach mir selber an! Und als mein Wille einmal wieder zum Leben erwacht war, konnte ich mich Stück für Stück von den Ketten der Anorexie befreien. Der Kampf tobte zwar noch ziemlich lang, aber die Frontlinie verschob sich allmählich in eine gesunde Richtung. So oft rief ich mir das „Du darfst“ ins Gedächtnis, Worte mit großer Schlagkraft, die ich mit der Zeit lernte, zu meinen eigenen zu machen.
Der Ritterschlag Teil 1
Als sich mein Essverhalten besserte und die Essstörungssymptomatik weniger Raum einnahm, da zeigte sich noch etwas. Nämlich dass das Nicht-Dürfen und die Härte als grundsätzliche Haltung mir selber gegenüber weiterhin mächtig waren. Und somit auch die innere Zerrissenheit, die mich völlig fertig machte. Es war ein solcher Unfriede mit mir selber, dass ich wahrhaftig die körperliche Empfindung hatte, innerlich zerrissen zu werden. Irgendwann lag ich nur noch weinend im Bett, verkroch mich unter der Decke, hörte über Kopfhörer laut Musik (um so zu tun, als wäre die Mitpatientin, die mit mir auf dem Zimmer war, nicht da), und betetet zu Gott, dass er mich von dieser Zerrissenheit befreien möge. Vorher hatte mich noch eine andere Mitpatientin gefragt, ob ich nicht einfach die inneren Waffen niederlegen könnte. Und ich hatte erwidert: „Nein, denn ich bräuchte andere Waffen, um sie zum Schweigen zu bringen.“
Der Ritterschlag Teil 2
Ich flehte Gott an, mir zu helfen, das innere Schwert zur Ruhe zu bringen. Ich sagte ihm aber gleichzeitig, dass ich es auf keinen Fall annehmen könnte, denn dann würde meine ganze Welt zusammenbrechen. Gottes Antwort war simpel, aber veränderte alles: „Wenn du das Schwert nicht ablegen kannst, dann nutze es doch, um dich selber zum Ritter zu schlagen.“ Es berührte mich so, dass Gott auf mein immenses Dilemma einging. Dass Er mich derart persönlich genau da abholte, wo ich war, und eine Lösung kannte, wo ich nur Sackgassenenden sah. Das berührte mich so sehr, dass ich in dem Moment loslassen konnte. Dass ich Gnade – Gottes Gnade – mir selber gegenüber zulassen konnte und mich mit mir selbst vereint fühlte. Ein Zustand von innerem Frieden, den ich schon gar nicht mehr gekannt hatte.
Es ist Wunder-bar, Ich selbst zu sein
Natürlich war nicht von jetzt auf gleich alles gut, aber die Weichen waren gestellt, um als ich selber, im Reinen mit mir und mit Gott, meinen Weg weiterzugehen. Ich halte an dem Frieden fest, der, wie die Bibel es in Philipper 4,7 beschreibt, den menschlichen Verstand übersteigt. Ja, so fühlt es sich für mich an, und es ist solch ein Wunder! Ich wünsche dir, dass auch du diese Gnade und diesen unfassbaren Frieden findest. Dass du dich mit dem Schwert, das du bisher gegen dich führst, zum Ritter oder zur „Ritterin“ schlagen kannst. Ich spreche dir hiermit ein „Du darfst“ zu in der Hoffnung, dass du es für dich selber übernehmen kannst. Und mit dir selber Frieden schließen kannst.
Ein Hoch auf Uns!
Autorin: Mirijam Buschmann
- Wortkünstlerin, Bloggerin, Psychologin
- Momentan in der Ausbildung zur Psychotherapeutin
- Ich liebe Jesus und die Geschichten, die er mit uns schreibt
- Ich glaube, dass Recovery und Freiheit möglich sind!
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- Instagram: https://www.instagram.com/mirijambuschmann/
- Blog „re|dis|covery“ (deutsch & englisch): https://mirijambuschmann.wordpress.com/
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