WENN DIE SEELE SATT IST, WILL DER KÖRPER NICHT HUNGERN
Es war der 24. Dezember 2007 und ich stand erschrocken auf der Waage meiner polnischen Freundin Beata, bei der ich jenen Heiligen Abend verbrachte. Ein halbes Jahr zuvor hatte ich mich in unser östliches Nachbarland begeben, um dort ein Praktikumssemester im Rahmen meines Studiums zu absolvieren. Doch irgendwie war ich in Warschau, meinem neuen Wohnort auf Zeit, anders angekommen, als ich in Deutschland gestartet bin. Ich war dünner geworden. Deutlich dünner. Ja, eigentlich viel zu dünn…
Doch da ich in meinem kleinen Studentenzimmer in Warschau keine Waage hatte, gab es auch keine Zahlen, die dies schwarz auf weiß belegten. Dass sich meine Körperwahrnehmung stark verändert hatte und nun verzerrt war, wusste ich nicht. Und noch viel weniger ahnte ich, dass ich in eine handfeste Magersucht gerutscht war.
Der erste Schockmoment erfuhr ich nur wenige Wochen vor jenem Heiligen Abend, als ich bei einem Kurzbesuch in Deutschland, zum ersten Mal auf der Waage stand. Da konnte ich es nicht mehr leugnen: Mein Gewicht war viel, viel, viel zu niedrig. Nachdenklich kehrte ich kurz darauf nach Warschau zurück und wusste, dass ich etwas verändern muss.
So nahm ich mir ,von nun an jeden Tag, eine Zeit nur für mich. Dabei versank ich tief in mich selbst, lauschte und fühlte, … .
Mir ging es gut in Warschau und Gründe dafür gab es genug. Die polnische Sprache hatte ich schnell gelernt. Ich liebe ich die Menschen und ihre Kultur. Außerdem erfüllte mich mein Praktikum und ich hatte liebe Freunde gefunden.
Nichts von all dem wollte ich missen.
Im Gegensatz dazu, hatte ich mich, während meines Studiums in Deutschland, oftmals leer und einsam gefühlt. Heute weiß ich, meine Seele war in Polen satt. Das Leben konnte tatsächlich schön sein – das hatten die letzten Monate in Polen bereits bewiesen.
Doch nun stand ich an besagtem Heiligen Abend erneut auf der Waage und war geschockt. Obwohl es mir wirklich gut ging, hatte ich seit meinem letzten Schritt auf die Waage kaum zugenommen und befand mich noch immer deutlich im Bereich des Untergewichts.
Mittlerweile konnte ich meine Seele gut mit Nahrung versorgen und es war nun die Zeit gekommen, auch den körperlichen Hunger dauerhaft zu stillen.
Es steckte wohl höhere Führung dahinter, dass ich mich gleich am nächsten Tag auf den Weg zum Taizé-Treffen in Genf machen wollte, um dort den Jahreswechsel zu verbringen. In dieser Zeit hatte ich drei Mal täglich die Möglichkeit, um sowohl in meditativen Gesängen Ruhe zu finden, als auch im Schein der Kerzen in die Stille zu gehen und dabei ganz bei mir anzukommen. Wie sehr veränderten mich diese Tage, in welchen schmerzhafte, aber auch sehr reinigende Erkenntnisse hervor brachen.
„Es ist nicht der Sinn deines Lebens, um jeden Preis dünn zu sein. Es gibt andere, viel genialere Pläne für dich!“ „Du bist viel schöner, wenn du deutlich mehr Kilos auf den Rippen hast!“ Und: „Du hast es verdient, zu leben!“
Immer wieder sprach diese innere Stimme zu mir, die ich bisher oftmals überhört hatte und die es doch sooo gut mit mir meinte.
Regelmäßige Zeiten der Stille, die während des Taizé-Treffens zu meinem Alltag zählten, ermöglichten es, dieser wohlwollenden inneren Stimme endlich immer kräftiger zu werden.
Und noch etwas veränderte sich in Genf, während dieser Auszeit: Mein Körper wollte auf einmal essen.
Monatelang hatte ich ihm jegliche Nahrung aufs Bitterste verweigert. Und nun konnte ich gar nicht anders, als ihm endlich das zu geben, was er wirklich brauchte.
Ich aß. Und aß. Und aß.
Regelmäßig nahm ich Mahlzeiten zu mir und gab meinem Körper alles, worauf er gerade Lust hatte. Ich aß vor allem mit Freude und stellte vollkommen überrascht stellte fest, wie schön das Essen sein kann. Nun holte mein Körper all das nach, was ich ihm so lange verwehrt hatte. Dabei schien der körperliche Hunger unstillbar und die Angst, wie ein Hefekloß aufzugehen, blieb aus. Endlich konnte ich meinem Körper all das geben, wonach er sich sehnte.
Ab jetzt durfte es mir und meinem Körper gut gehen.
Heißt das also, von nun gehts nur noch bergauf? Nein! Doch in kleinen Schritten … .
Nach diesen Tagen der Stille in Genf wurde es bei meiner Rückkehr nach Warschau etwas kritisch. Ich stellte mir Fragen, die meine Angst noch bestärkten: „Falle ich wieder in meine alten Muster zurück? Oder schaffe ich es tatsächlich, weiter zuzunehmen?“ Bestätigende Antworten darauf gab es natürlich in ein paar wackelige Situationen. Doch der Wunsch, gesund zu werden, war inzwischen stärker als die Angst vor der Gewichtszunahme.
So konnte ich doch recht bald feststellen: Es ist geschafft!
Langsam, aus tiefstem Herzen und auf genießerischer Weise nahm ich an Gewicht zu. Zudem genoss ich weitere wunderbare Wochen in Warschau. So möchte ich abschließend meine Heilreise so beschreiben: Nicht nur meine Seele war satt geworden – auch mein Körper war nun tatsächlich bereit, die Zeit des Hungern endlich hinter sich zu lassen.
Ein Hoch auf Uns!
Autorin: Dorothea Ristau
Mehr als sechs Jahre war ich im Teufelskreis Essstörung gefangen, bis ich diesen im September 2009 für immer verließ. Schon damals wusste ich, dass ich den Weg durch die Hölle nicht für umsonst gegangen bin, sondern dass meine Erfahrungen irgendwann irgendjemandem nütze sein werden.
Heute betreibe ich das Onlineportal „essmo: Wege aus der Essstörung“ für Betroffene, Angehörige und fachlich Interessierte. Neben einer größer werdenden Anzahl an (kostenlosen) Angeboten auf dem Onlineportal entfaltet sich ein großes Forschungsprojekt. In diesem möchte ich herausfinden, wie über Berührung Heilung geschieht, um später aus den Ergebnissen eine körperorientierte Methode zur Behandlung von Essstörungen zu entwickeln.